Heute möchten wir euch die Library of Tibetan Works and Archives, die Institution, in welcher wir den Unterricht besuchen, näher vorstellen – beginnen wir mit der Geschichte: 

Nach internationalem Völkerrecht war Tibet ein Staat mit eigener Staatsbürgerschaft und Staatsgewalt, eigenem Staatsgebiet und eigener Währung. Im Jahre 1950 wurde Tibet von der chinesischen „Volksbefreiungsarmee“ gewaltsam seiner Eigenständigkeit beraubt und annektiert. Zwar sicherte die chinesische Regierung den Fortbestand der tibetischen Sprache, Kultur, Religion und des etablierten Status des Dalai Lamas zu, hat diese Zusagen jedoch nicht erfüllt. Die massive Unterdrückung und die Einschränkung der Religionsausübung führten in der tibetischen Bevölkerung zu wachsendem Widerstand. Am 10. März 1959 kam es zu einem tibetischen Volksaufstand, der von der chinesischen Armee brutal niedergeschlagen wurde und 86’000 Tibeter das Leben kostete. Unmittelbar darauf flüchtete der Dalai Lama ins Exil nach Indien. Tausende Tibeter taten es ihm gleich und nahmen die beschwerliche Flucht über den Himalaya auf sich. Viele von ihnen versuchten alte Schriften und andere wertvolle Kulturgüter vor der Zerstörung durch die chinesische Armee zu retten, indem sie diese nach Indien brachten und sie dort an den Dalai Lama übergaben.

So kam es, dass im Jahre 1970 auf Anweisung des Dalai Lama mit dem Bau der Library of Tibetan Works and Archives in Dharamsala begonnen wurde, um die Kulturgüter fachgerecht aufbewahren und erhalten zu können. Das Gebäude wurde im traditionellen tibetischen Stil gebaut und öffnete bereits im November 1971 seine Türen für interessierte Besucher. In den darauf folgenden Jahrzehnten hat sich die Library zu einer der wichtigsten Institutionen zur Erhaltung und Verbreitung der tibetischen Kultur entwickelt und wurde 1991 sogar offiziell von der Universität Himachal Pradesh als Zentrum für tibetische Studien anerkannt. 

Seit vielen Jahren suchen Menschen aus aller Welt diesen Ort auf, um die tibetische Sprache oder buddhistische Philosophie zu studieren – wir haben uns als Ergänzung zu unserem Studium für einen Lehrgang in buddhistischer Philosophie entschieden. Unterrichtet wird von Geshe Gyaltsen Tsering. Er stammt aus der Region Kham in Osttibet und begann bereits im Alter von 18 Jahren den Buddhismus zu studieren. Im Jahre 1988 konnte er aus Tibet fliehen und widmete anschliessend 25 Jahre dem Studium des Buddhismus an der Klosteruniversität Drepung in Südindien. 2013 erhielt er den Titel eines „Lharampa Geshe“. Dies ist die höchste Auszeichnung, welche ein Gelehrter in der tibetisch-buddhistischen Tradition erhalten kann. 

Unser Unterricht findet jeweils am Vormittag statt. Um auch ein bisschen Bewegung zu haben, gehen wir meist zu Fuss zur Library, die sich auf halbem Weg zwischen Dharamsala und McLeod Ganj befindet. Die Studieninhalte werden in tibetischer Sprache vermittelt und für diejenigen, die kein Tibetisch sprechen, ins Englische übersetzt. Neben den vielen Interessenten aus dem Ausland studieren hier auch tibetische Nonnen und Mönche. Es ist anspruchsvoll, dem Unterricht zu folgen, da die Inhalte oft sehr komplex sind und auch immer wieder eigene Ansichten berühren und zum Nachdenken anregen. Für uns ist es jedoch eine spannende Zeit und eine grosse Bereicherung, so direkt mit der tibetischen Kultur und der hier gelebten buddhistischen Philosophie in Kontakt stehen zu können. Auch die vielen Geschichten und Bespiele aus dem Leben von Geshe Gyaltsen Tsering, die er in den Unterricht einfliessen lässt, sind sehr spannend. Oft erzählt er uns mit leuchtenden Augen aus seiner Kindheit, die er noch in Tibet verbracht hat. Doch manchmal wird er auch sehr nachdenklich, wenn er von seinen persönlichen Erfahrungen mit Haft und Folter erzählt, die er vor seiner Flucht erdulden musste. Es ist für uns unglaublich inspirierend und beeindruckend einen Menschen kennen lernen zu dürfen, der trotz seiner schweren Lebensgeschichte seinen Humor, seine Warmherzigkeit und seine Offenheit nicht verloren hat. Besonders eindrücklich ist es für uns auch, dass trotz all dieser Erlebnisse und der bis heute andauernden Unterdrückung und Gewalt in seinem Heimatland kein Hass oder Groll bei ihm spürbar ist. Für uns ist er ein grosses Vorbild für gelebtes Mitgefühl und Dankbarkeit…